Die Pädagogik als Wissenschaft ist im vergangenen Jahrhundert durch viele Höhen und Tiefen gegangen. Zwei Extreme verdeutlichen das: Die preußische Drillerziehung der 20er und 30er Jahre und die sogenannte antiautoritäre Erziehung der 60er Jahre. Hinzu kam die Spaltung der Welt in zwei Lager, in denen der sozialistische Teil die Pädagogik als gesellschaftliche Disziplin revolutionieren wollte und alle „alten“ Erfahrungen hinter sich zu lassen gedachte. Jede neu aufgekommene Meinung, Ansicht, Theorie oder auch nur einzelne Gedanken – und das in beiden Lagern – wähnten sich modern und erhoben den Anspruch, Theorie und Praxis unserer pädagogischen Vorfahren zu verdammen und zu verwerfen. Und noch heute ist die Gesellschaft noch nicht frei von Arroganzen dieser Art.
Ich bin in der DDR aufgewachsen, Pestalozzi wurde dort nicht gelehrt. Natürlich kannten ihn einige, weil er in der pädagogischen Wissenschaft nicht einfach weggedacht werden konnte, aber die Politik versuchte allenfalls, ihn zu übertönen. Unser pädagogisches Leitbild hieß Anton Semjonowitsch Makarenko, russischer Pädagoge, 1888-1939. Seine Schriften galten als Grundsatzliteratur für jeden Pädagogen, hinter die Pestalozzi zurückgedrängt wurde. Auf die Beschäftigung mit Pestalozzi bin ich erst nach dem Zusammenbruch der DDR vorgedrungen und letztlich, auch insbesondere durch das Buch Menschen bilden von Dr. Arthur Brühlmeier, der an vielen Stellen auf das Denken und Wirken Pestalozzis zurückgreift. Aufschlußreich ist dabei immer wieder, daß Makarenko im wesentlichen keine anderen Ideale hatte und auch keine anderen Ziele verfolgte. So ist das Buch für einen DDR-Leser eine Brücke, die die unterschiedlichen Richtungen in der Pädagogik miteinander verbindet. Unangefochten wichtig ist dabei die stets kritische Haltung des Autors zu vielen der heutigen Praktiken in den Bildungssystemen der Neuzeit in unseren Ländern, die den Anforderungen an Bildung und Erziehung unserer nachfolgenden Generationen nicht gerecht werden.
Erziehung ist stets eine Einheit von Überzeugung und Zwang. Die Unterlassung eines der beiden Kriterien führt zu Fehlleistungen. So verstehe ich die Forderung nach ganzheitlicher Erziehung, die der Autor in seinem Buch umfassend behandelt und dabei stets die Grundsätze bei Pestalozzi findet. Das sind aber auch die Grundsätze, die man auch bei Makarenko findet, obwohl er vordergründig mit „schwererziehbaren“ Kindern und Jugendlichen arbeitete.
Gelungen ist auch der Aufbau des Buches. Die einzelnen Kapitel sind problembezogen und verlangen keine unbedingte chronologische Aufeinanderfolge. So ist das Buch auch als Nachschlagwerk geeignet, in dem man aus dem Inhalt Anleitungen zu einzelnen auch speziellen Fragen finden kann.
Zurück zur anfangs gestellten Frage, wie aktuell Pestalozzis Denkweise ist, kommt man in jedem Kapitel zu dem eindeutigen Schluß, daß Pestalozzis Schriften zeitlose Grundsätze der Pädagogik beinhalten und auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Darin sehe ich den Wert dieses Buches.
Pädagoge aus der ehemaligen DDR
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